Literarischer Adventkalender von Susanna Haunold
Von zahmen Intelligenzbestien
Angeblich soll man mittels der beliebten Tätigkeit des Lesens viel für seine (Weiter)Bildung Tun können. Wenn man bei der Auswahl der Lektüre nicht sehr vorsichtig ist, dann wird es eher eine deprimierende Angelegenheit. Dabei soll gar nicht von seichter Literatur die Rede sein, sondern im Gegenteil: wissenschaftliche Texte, was Forschungsergebnisse über unser gutes, altes Gehirn betrifft. Und mit 'alt' wären wir eigentlich schon beim Thema: offenbar schleppen wir noch eine ganze Menge urzeitlicher Bestandteile mit uns herum. Irgendwie ist das ganz praktisch, man muss das Rad nicht immer wieder neu erfinden. Allerdings scheinen wir manche Lebenseinstellungen ebenfalls aus genau dieser Zeit so ins Herz geschlossen zu haben, dass wir uns auch im modernen Umfeld nicht davon trennen möchten. Sonst wäre es kaum zu erklären, dass man in Bezug auf Straftaten meistens Motive vorfindet, die vermutlich schon bei Familie Neandertaler en vogue waren: Hass, Zorn, Eifersucht. Aber es ist gar nicht nötig, sich gedanklich in solch extreme Bereiche zu begeben, auch im Alltag führen die grauen Zellen nebst Synapsen und was immer da noch so in den Gehirnwindungen herumkollern dürfte, offenbar ein Eigenleben. Wenn man zum Beispiel interessiert einer Nachrichtensendung zuhört, kann es passieren, dass sich unsere Gedanken anderen Prioritäten zuwenden. Dabei geht es keineswegs nur um durchaus verzeihliche 'Side-steps', wie etwa die Auflistung aller Verpflichtungen für den betreffenden Tag. Nein - während man gerade ein paar intelligente und profunde Überlegungen zur politischen Lage anstellen möchte, erwacht ein anderes Teilgebiet unseres Denkapparates -'Herzlichen guten Morgen!' - und lenkt voll Tatendrang den Hirnstrom in eine andere Richtung: 'Der Anzug des Moderators ist so unglaublich hässlich!' Nun, das entspricht vielleicht sogar der Wahrheit; falls man einen ähnlichen Beruf wie Designer oder Schneider ausüben sollte, wäre das Urteil sogar profund. Aber eigentlich nicht so ganz das, was man ursprünglich denken wollte ... Wesentlich problematischer wird die ganze Angelegenheit in Situationen, wo man gerne politisch korrekt vorgehen möchte. Wer hat denn da das Sagen: 'Ich oder ich?' Angenommen, eine Frau geht eine Straße entlang. Dort hält sich auch eine Gruppe von ausländisch aussehenden Männern auf, die sich einer ebensolchen Sprache bedienen. Selbst wenn man gegen die Einflüsterungen mancher Parteien immun sein sollte, wird das Gehirn sofort losrattern: 'Du lieber Himmel! Das sind sechs, sieben, nein sogar acht ... ! Die Gesichter sehen gar nicht fröhlich aus!' Da man dieser Fremdsprache nicht mächtig ist, kann man bedauerlicherweise keinen Rückschluss auf die besprochenen Themen ziehen. Also wäre alles denkbar - vom Brotpreis, über geplante Terrorattacken oder vielleicht sogar die eigene Anatomie. Obwohl man sich rational dagegen sträubt, versteht man irgendwie, warum sich andere Gehirnareale zu Wort gemeldet haben. Im Ernstfall wäre es wichtig, sich mit den Tatsachen auseinanderzusetzen: Jeder einzelne ist schon stärker als man selbst und hierbei hat man es mit einer ganzen Gruppe zu tun - von der gleichnamigen Dynamik ganz zu schweigen; also ist Vorsicht geboten! Man könnte jedoch wenigstens ein mentales Alternativprogramm parallel dazu starten und sich folgenden Dialog ausdenken. In dessen Verlauf sagt der eine gerade (auf ausländisch): „Mein lieber Freund; wir beeinträchtigen hier das Weiterkommen der anderen Passanten, verursachen bei den hiesigen Frauen ein ungutes Gefühl und werden vermutlich der Bildung einer terroristischen Vereinigung verdächtigt. Dennoch möchte ich, dass wir noch ein wenig hierbleiben, um einen wichtigen Punkt zu vertiefen. Und zwar die Bedeutung des kategorischen Imperativs im Hinblick auf die zunehmende Androidisierung unserer Gesellschaft .“ Wenn man diese Männergruppe ohne weitere Vorkommnisse hinter sich gelassen hat, sollte sich unser Steinzeitmenschen-Anteil aus zwei Gründen schämen: Einerseits natürlich, dass man diesen ehrbaren Männern gegenüber ein Vorurteil gehegt hatte. Doch das 'Andererseits' ist auch nicht ohne! Man muss sich nämlich eingestehen, dass man selbst sich über diese wichtige Thematik noch keinerlei Gedanken gemacht hat .. Offenbar ist es uns aber nicht nur in vermeintlichen Gefahrensituationen durchaus angenehm, das (Mit)Denken anderen zu überlassen. Dieses Phänomen bescheinigen nicht nur zahlreiche Wahlergebnisse und Umfragen, sondern auch viele Neuerungen im Computerbereich. Man möchte eigentlich in Ruhe sein Gedächtnis durchforsten, wie der Nachname des potentiellen Email-Empfängers lautet, als schon ein virtueller Geist eilfertig seine Dienste anbietet: Ri .. Ritter? - Nein! Ri.. Richter? - Nein! Ri .. Rimetzberger? .. (genervt:) JA! Doch welche Gegenargumente hätte man denn zur Verfügung? Besonders, wenn man sich zum Beispiel folgende Situation ansieht: „Sitz nicht so krumm da!“ -„Aber Mama - ich bin erwachsen, habe meine eigene Familie und bin beruflich total erfolgreich ..“ Wenn hingegen die betreffende App in Aktion tritt: „Da ihr Rücken in Relation zur Ebene ihrer Sitzgelegenheit einen Winkel von 17° einnimmt, empfehlen wir die neuerliche Ausrichtung ihrer rückwärtigen Körperpartie.“ - „Nur weil ich die App heruntergeladen habe, gibt dir das noch lange kein Recht, mich herumzukommandieren!“ Sehr häufig wagt man es jedoch gar nicht sich dieser vermeintlichen Autorität zu widersetzen. „Fahren Sie die nächste Gasse links und dann durch den Torbogen!“ - 'Ist der Wagen nicht zu breit?' (Als ahnt das Navi die widerspenstigen Gedanken: )„Fahren Sie gefälligst die nächste Gasse links und dann durch den Torbogen!“ Man hat - wieder einmal - weder weit noch sozial genug gedacht! Denn das Video im Internet, das den steckengebliebenen Wagen zeigt, wird vielen Mitmenschen ein paar fröhliche Momente in einem sonst so harten Tag bescheren .. Leider hat unser 'Über-Ich' (- falls die Theorien von Freud gerade einmal wieder modern sein sollten! -) rund um die Uhr alle Hände voll zu tun; denn es ist nun einmal nicht möglich irgendwo anzukreuzen: 'Ich möchte nicht immer den einfachsten Weg wählen.' Bei jeder Entscheidung scheint man daher von Dutzenden aufgeregten Gestalten umringt zu sein. Diese plädieren begeistert und hartnäckig - aber ohne die Mühsal eines langwierigen Denkprozesses - für ihren Favoriten. „Ich verstehe nichts von Aktien.“ - „Es gibt 37% Rendite!“ „Dieser Arzt scheint nicht so kompetent zu sein wie der andere.“ - „Aber der trägt keinen Kittel!“ „Salat ist sehr gesund.“ - „Der Braten sieht viel appetitlicher aus!“ „Ich habe wichtige und anspruchsvolle Themen in Angriff genommen; die muss ich jetzt ausführlich diskutieren und meine Theorien dazu mit tiefschürfenden Argumenten untermauern. Da kann ich nicht nach ein paar Seiten schon wieder aufhören ..!“ - „Die Leser haben vielleicht das eine oder andere Mal geschmunzelt, einige Aspekte interessant Gefunden, haben aber jetzt genug literarischen Input bekommen und wollen das alles in Ruhe nachwirken lassen.“ „Na gut, aber ICH denke das Schlusswort“: 'Ende'. |