Literarischer Adventkalender von Susanna Haunold
Kurzsichtigen Auges
Ja, natürlich hat er mir tief in die Augen geschaut; noch dazu mit einem fast wissenden Blick. Zugegeben, das Ambiente war nicht überwältigend romantisch. Noch dazu überwachte ein nichtssagendes Frauenporträt (vermutlich die selige Großmama in Jugendtagen) von einem protzigen Rahmen herab streng sämtliche Geschehnisse. Aber durch einen Spalt im Vorhang blinzelte wenigstens die Abendsonne in das abgedunkelte Zimmer. Und dann plötzlich: links -2, rechts - 3 ... Dioptrien! Nach diesem Schock beim Besuch meines Augenarztes, musste ich entsetzt feststellen, dass sich ganze Teile der Wirtschaft gegen meine Sehschwäche verschworen hatten; denn jener in fast alchimistisch angehauchten Gefilden operierende Mann - seines Zeichens Optiker - hat mich dazu verdammt eine Art 'Augen-Beißkorb' zu tragen. Dabei bietet auch die Tatsache keinen Trost, dass es sich dabei heutzutage nicht mehr um schnöde gläserne Scheiben mit etwas Metall drumherum handelt, sondern um bunte, durchaus stylische Konstruktionen. Man könnte dabei sogar - auch als nicht sehr religiöser Mensch - ein Zeichen göttlicher Fügung ablesen, einen kleinen Beweis für die Sinnhaftigkeit der Schöpfung: denn Ohren und Nase befinden sich genau dort, wo diese tausende Jahre später getätigte Erfindung platziert werden kann. Diese Erkenntnis von biblischem Ausmaß, die von Ignoranten oftmals in einen niveaulosen Witz verpackt wird, kann jedoch keinesfalls ein Manko kompensieren: die Blicke, die man einst zwanglos als Antwort auf die Reize der Umwelt aussandte, werden nunmehr irgendwie autoritär fokussiert. Nun war es die Umwelt, die auf mich reagierte: man stellte nämlich fest, dass ich jetzt sehr intellektuell aussah und tiefsinnige Korrelationstabellen auf, die den imaginären Anschein und den gewissermaßen realen Ist-Bestand von Intelligenz aufzeigen sollten. Die ermittelten Werte waren unterschiedlich. Einigkeit herrschte nur in einem Punkt: Du bist nun eine Sehende! Naja, im Grunde stimmt das auch; vielleicht abgesehen von jenen Situationen, in denen das mythische Gerät erkennen lässt, dass es sich trotz gefinkelten Schliffs, eben doch nur um ein Stück Glas handelt. Wird es nämlich bei feuchter Witterung von einer zarten Dunstschicht überzogen, kann von besserer Sicht keine Rede mehr sein. Doch auch aus dieser vertrackten Lage weiß ein 'professioneller' Brillenträger Kapital zu schlagen: wenn eben als Folge des schlechten Wetters das Stimmungsbarometer äußerst tief fällt und die Regentropfen die Brille hinablaufen, kann man es sich ersparen, selbst zu weinen ... Doch apropos 'sehen': Es ist nun alles so nüchtern - keine Gestalt verbirgt sich mehr in den Vorhangfalten. Auch die Näherkommenden, die man früher mit den Augen abtasten musste, um wenigstens ihre potentielle Identität erahnen zu können, bieten innerhalb der Normen der Normalsichtigen keine Geheimnisse mehr. Jetzt kann man sogar Schilder entziffern, die weit entfernt sind: 'Optiker' steht auf dem einen - welch Gewinn sowohl für die Erkenntnis als auch für die eigene persönliche Entwicklung!!! Natürlich ist es möglich diese Sicherheit aufzugeben, indem man das neue Körperteil- ähnliche Anhängsel ablegt und sich in die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten der Dinge fallen lässt. Auch der alte Trick ist wieder erlaubt, um die oberste Regel aller Kurzsichtigen einhalten zu können: Lass dir nie deine Unsicherheit anmerken! Wer könnte bloß diese Gestalt sein, die von einer sichtbaren Aura umgeben, auf dich zuwallt? Warte ab bis die Person in die 'Zone der Gewissheit' eintritt, sich also im Extremfall nur mehr wenige Zentimeter von deinen Sehorganen entfernt befindet. Dann blicke überrascht auf und verkünde strahlend:' Oh, Sie sind es! Ich habe Sie gar nicht kommen sehen!' Das spannendste Moment in diesem Spiel ist natürlich die Überprüfung, ob es wirklich die vermutete Gestalt ist, der man nun Aug in (kurzsichtigem) Aug gegenübersteht. Aber: Alle Augenärzte und Optiker der Welt müssen zugeben, dass in dieser peinlichen Situation eine Brille auch nicht von Nutzen wäre! Im Gegenteil: Gerade die Abwesenheit derselben stellt doch in den meisten Fällen eine halbwegs plausible Erklärung für eine liebevolle Begrüßung dar, die man einem völlig Fremden von Ferne zuteil werden ließ. Apropos 'Ferne': Es ist verblüffend,welchen Einfluss eine Brille auch auf Tätigkeiten hat, die man - ohne nachzudenken - an ganz anderer Stelle am Körper lokalisieren würde; Umarmungen finden eigentlich eine 'Etage' tiefer statt, also etwa 30 - 40 Zentimeter unter den Augen. Allerdings wie üblich nur in der Theorie! Denn zwei Brillenträger, die genau das versuchen, können in eine ganz schön problematische Situation geraten. Also muss mindestens einer davon seinen Sehbehelf abnehmen. Abgesehen von der kniffligen protokollarischen Fragestellung, wer von den Beiden das tun sollte, gibt es einen wesentlich ärgerlicheren Nachteil zu beklagen: die Spontaneität, die prinzipiell Umarmungen begleiten sollte, ist nicht einmal mehr in Nuancen vorhanden. Die Kreativität wird andererseits beim Tragen einer Brille sehr gefördert, denn man sollte es nicht für möglich halten, wo man sie überall verlegen kann! Oder - in diesem Fall wird es selbst jedem Hobbypsychologen klar, dass es vielleicht unbewusst, aber keineswegs unwillkommen abläuft: auf wie viel verschiedene Arten man sie ihrer Funktionalität berauben - und damit wenigstens kurzfristig aus dem eigenen Dasein verbannen kann... Vielleicht sollte man an dieser Stelle noch kurz auf Kontaktlinsen zu sprechen kommen. Deren Träger sind wahrlich Spielverderber! Sie stehen nicht zu ihren optischen Defiziten, sondern beheben diese ganz unauffällig. Nun, so unauffällig auch wieder nicht, denn hin und wieder geraten sie in eine vertrackte Situation. Hoffentlich erhält jeder Brillenträger die Chance selbiger - schadenfroh, versteht's sich! - beizuwohnen: Alle Insassen einer U-Bahngarnitur nehmen hilfsbereit an einer (fast aussichtslosen) Suche teil: nach einem kleinen durchsichtigen gewölbten Plättchen, mit einem Durchmesser von etwa einem Zentimeter! Ein Tipp für den unbeteiligten Beobachter: Derjenige, der verzweifelt dreinblickt und unentwegt zwinkert, ist jener Unwürdige, der aus dem Reich der Fehlsichtigen desertierte. Ja, unsere Welt ist zweifelsohne reich an Fehlsichtigen! Da ich - allerdings zwangsweise - nicht mehr dieser Gruppe zuzurechnen bin, sehe ich frühere Ereignisse im wahrsten Sinne des Wortes mit neuer Klarheit, die mitunter schmerzliche Erkenntnisse nach sich zieht. Etwa, was die Ordination meines Augenarztes betrifft - oder genauer gesagt: das darin befindliche Bild; der protzige Rahmen umschließt - einen Spiegel! |