Literarischer Adventkalender von Susanna Haunold
SELBSTVERSUCH
Neulich hat sich im Radio ein Psychologe darüber unterhalten, wie es gelingt, das Leben besser zu gestalten; er möchte uns seine Erkenntnis schenken: immer und überall - positiv denken! Das wäre eine interessante Möglichkeit, aber in allen Belangen? - Das geht mir zu weit. Ob sich der Kerl das auch zu behaupten traut, wenn er Menschen mit Sorgen in die Augen schaut? Aber warum nur oberflächlich kritisieren, und die Theorie nicht einfach ausprobieren? Das bedeutet ja nicht, man wär' immer daran gebunden, fürs erste reichen vierundzwanzig Stunden. Was hätte ich also zu verlieren, diesen spannenden Selbstversuch durchzuführen? Es möge bald etwas Unerfreuliches geschehen um zu überprüfen: 'Kann ich es positiv sehen?' Siehe da, was uns an Wünschen immer so stört - die achtlos Geäußerten werden prompt erhört. Die Hausordnung kann den Lärmpegel nicht beschränken, weil manche sich nicht dran zu halten gedenken. Wenn etwa Husten und Ächzen und Schneuzen und Stöhnen in Variantenreichtum aus der Nachbarwohnung tönen. Mitten in der Nacht und unter den Geistern, die ich rief: was zum Teufel, wäre daran positiv? Also: Eine Karriere ist heutzutage nicht mehr so kompakt, man wechselt die Jobs im Drei-Jahres-Takt. Sollte sich meine Laufbahn unerwartet winden, und ich mich als Cartoonist wiederfinden, wären diverse Geräusche für mich keine Qual, sondern erstklassiges Sprechblasen-Text-Material. Okay, das war holprig, doch das Projekt ist noch jung, vielleicht komme ich durch mehr Übung in Schwung. Was beendet statt Gezwitscher um fünf Uhr die Nacht? Eine fremde Schublade, die an die Schrankwand kracht! Das ist fürwahr ein harter Brocken, um das Positive daraus hervorzulocken. Nun, man kann die Kosten für ein 'Boot-camp' sparen, und trotzdem eine drill-artige Behandlung erfahren, die werden dort nicht auf Zehenspitzen ins Zimmer treten, um zärtlich 'Guten Morgen' zu flöten. Oder sollte - durchaus realistisch - ein Löwe auftauchen, würde ich keine Sekunde Reaktionszeit brauchen, meine Instinkte sind durch die Schreckmomente trainiert, und das Nervenkostüm nahezu pulverisiert. Das Vieh würde in mir keine Mahlzeit sehen, sondern blieb verdutzt in meiner Staubwolke stehen. Die permanente Rücksichtslosigkeit – das muss ich zugeben, rettet mir eines Tages das Leben! Das war jetzt nicht perfekt, aber immerhin, ich stecke schon im 'Gar-nicht-so-schlimm-Modus' drin. Um in Sachen 'Positiv-denken' durchzustarten, muss man nicht lange auf Gelegenheiten warten. An der Tür prangt ein Aufkleber: 'Postwurfsendungen – Nein' das dürfte für Verteiler eine Anregung sein, sonst würden sie mich nicht mit dessen Missachtung quälen; so kann ich täglich meine Sorgen und Prospekte zählen. Bevor Zornes-Wellen durch die Adern rauschen, sollte man sich mit einem Zen-Meister austauschen. Denn der würde für ein reiches spirituelles Leben uns vermutlich eine adäquate Aufgabe geben: „Kehre zehn Jahre die Tempelstufen mit diesem Besen!“ - der Unterhaltungswert wäre ähnlich niedrig gewesen. Man nimmt links die Prospekte, ein ärgerlicher Schnief', rechts in den Papierkorb - das ist fast meditativ. Diese Sisyphusaufgabe kann man schnell beenden und sich wieder dem fröhlichen Alltag zuwenden. Die sorgenfreie Zeit erhält eine jähe Wendung, mit dem Auftauchen einer unerwünschten Sendung. Schnell auf die Website, eins-zwei-dreimal ein Klick, und das Zeug geht wohin-auch-immer zurück ... - Falsch! Nach zig 'links' - die Zuversicht war entschwunden - habe ich endlich das Eingabefeld gefunden. „Dieses Paket habe ich nicht bestellt!“ „Es macht mich glücklich, dass es dir so gefällt.“ „Es ist Ihrer Firma ein Fehler unterlaufen, jemand anders wollte diese Ware kaufen!“ „Bin ein Dummchen, hab' kein reales Leben, kannst du die Frage noch einmal eingeben?“ Das tue ich, doch mein Ärger nimmt zu, daran ändert rein gar nichts das vertrauliche 'Du'! Ich erkläre, ich umschreibe, ich formuliere hin und her, mein Anliegen zu verstehen, fehlt der Maschine echt schwer. „Ist denn keiner da, es optional zu retournieren?“ „Du willst Kanada okkupieren?“ „Vielleicht irgendwann, doch vorher möchte ich lernen, wie kann ich meine Daten aus ihrem Auftrag entfernen!!!“ Nach zwei mühsamen Stunden, der Baldrian wurde knapp, ließ sie sich zu einer Vertraulichkeit herab: „Muss virtuelle Kollegen zu Rate ziehen“. Der Akku gab auf; ich konnte entfliehen. Eins: Es lohnt sich präzise zu formulieren, um jede Art der Kommunikation zu optimieren. Zwei: Ich sollte nicht über diese Episode stöhnen, sondern mich an den Dialog mit Automaten gewöhnen. Ein dritter positiver Aspekt ist im Moment nicht wichtig; ein kleiner Spaziergang wäre jetzt goldrichtig. Auf diesem ertönt plötzlich eine Stimme aus der Nacht - ein Radler, der vor mir eine Vollbremsung macht. Mit „O jegerl“ will er wohl seine tiefe Reue darlegen, denn er fährt nicht auf Straßen, sondern den Gehwegen. Jetzt kommt sicher das klassische: 'Es war ein Versehen' oder eine Geste - eindeutig zu verstehen. Man sollte sich anstrengen, dass man eine Aussprache schafft, denn die Begründungen sind schlichtweg sagenhaft!!! Etwa: 'Weil sie Hunde ohne Leinen zu sehen kriegen, weil Spritzen bei Kinderspielplätzen herumliegen weil Passanten sehr oft den Radweg benutzen weil Konzerne die Seen mit Abwässern verschmutzen.' Durch renitente Radler wird somit auf der Welt das moralische Gleichgewicht hergestellt. In Sachen Umwelt sind sie ethisch über-drüber, daher ist es manchen von ihnen lieber - damit die Normalsterblichen sich nicht so sehr genieren - auch öfter Vorschriften zu ignorieren. Das Radfahren ist noch immer jugendlich angehaucht, was vielleicht generell in deren Denkweise auftaucht. Und worauf sind viele Teenager quasi genetisch programmiert? Darauf, dass man Regeln prinzipiell torpediert. Die Fahrt ist einsam - nicht wie im Bus oder Zug da gibt es Passagiere, oft mehr als genug. Sie wollen ihrer Isolation entwischen, sodass sie an Personen sehr dicht vorbeizischen. Positiv gedacht: das ganze ist fair, denn man ärgert sich über Autofahrer ebenso sehr Und: 'artgerecht leben' ist bei Haus- und Zoo-Tieren das Ziel, dafür unternimmt die Gesellschaft sehr viel manche Radler bringen ihren Beitrag dar zum 'Großstadtdschungel' - es lebe die Gefahr! Man freut sich, wieder sicher zu Hause zu sein, da stellt sich schon ein lästiger Vertreter ein. Abgesehen davon, dass er die Jause stört, hat die Firma noch nie etwas vom Internet gehört? Es gibt auch noch die religiösen Sendboten deren Beliebtheit hat ganz miese Quoten. Es ist ja sehr schön, wenn sich Menschen engagieren, aber müssen sie die Erleuchtung auf meiner Schwelle deponieren? Kann wirklich irgendwer ihre Informationen brauchen oder freut sich sogar, wenn sie am Nachmittag auftauchen? Der nächste Programmpunkt an diesem Tag, an dem man schwerlich etwas positiv zu finden vermag: Vom Unmut beflügelt, wird man sich die zur Brust nehmen, die sich nicht zu der Beantwortung von Emails bequemen. Wie erwartet, wird man mit Erklärungen traktiert, warum und weshalb das nicht konveniert. Ein 'alles ok lg' wäre' mit 20 Sekunden beendet, während die Suade viel mehr Lebenszeit entwendet! Keine Zeit mehr für Ärger, ich hab bald ein Rendez-vous, die Akte 'Positiv-denken', geht fürs erste einmal zu. ..... Die optimistische Sichtweise war nicht gefragt: denn der Betreffende hat kurzfristig abgesagt. Da hab' ich ein bisserl die Contenance verloren, für den Radio-Mann gab's was auf die Ohren! Mein Umfeld ging wegen dieses Vorfalls auf Distanz, so hatte ich Zeit für eine Zwischenbilanz Ich habe mir soviel von dem Experiment versprochen und jetzt habe ich es so rüde abgebrochen! Von diesem Rückschlag lasse ich mich aber nicht beschränken ich fange sofort wieder an, positiv zu denken: Es ist jetzt ungefähr halb acht - ob noch ein Vertreter eine Runde macht? ----- Es gab positive Aspekte, doch brachte es mich menschlich weiter? Als Teil eines Programms wäre manches ganz heiter. Wenn mir auch die Begeisterung für diese Tatsache fehlt - ABER: was hätte ich sonst heute Abend erzählt? |