Literarischer Adventkalender von Susanna Haunold
Die Eckensteher
oder: fünf Akte und ein Drama Um gleich allen Spekulationen über Evolution oder Vererbungs-gesetze vorzubeugen: als Eckensteher wird man nicht geboren, man erarbeitet sich diese Bezeichnung äußerst mühsam. Es kann natürlich nicht schaden, falls man diesbezüglich über ein gewisses Talent verfügen sollte. Um auch gleich Missverständnissen vorzubeugen: im folgenden ist nicht die Rede von jenen Eckenstehern, die 'Ede' genannt und unter letzterer Bezeichnung jedem Kenner von Kreuzworträtseln ein Begriff sind (allerdings exklusive des Wissens um die genaue Bedeutung derselben!) Nein, die vorstehenden Repräsentanten obiger Bezeichnung sind nicht im Gauner- Milieu, sondern im Einzugsgebiet der Hochkultur zu finden. Es ist ebenfalls wichtig zu betonen, dass zwar alle stehen, allerdings nur die fortgeschrittenen Vertretern dieser Spezies wählen für diese Tätigkeit - wie könnte es anders sein: - eine Ecke! Denn geübte Stehplatz-Besucher, die bereits gelernt haben, welch lange Weile Langeweile andauern kann, suchen sich vorsichtshalber einen Eckplatz aus; nur dann ist es ihnen möglich, sich vielleicht nicht gut unter- aber wenigstens gut anhalten zu können! Das halbwegs komfortable Anlehnen erlaubt es nämlich, dass man die Gedanken in andere Dimensionen schweifen lassen kann. Der Einfachheit halber soll zur Skizzierung der einzelnen Phasen, die auf solche Zuschauer warten - passend zur Örtlichkeit - eine klassische Dramenstruktur mit fünf Akten herangezogen werden. Der erste Akt - die sogenannte Exposition - entspricht im großen und ganzen einer Bestandsaufnahme: Welches Stück sehe ich? Wie gut gefällt es mir? Wie sehr belasten Alltagsprobleme meine Laune? Im Idealfall setzt hier eine intensive Anteilnahme am jeweiligen Theatergeschehen ein. Falls unerfreulicherweise das Dargebotene nicht genug zu fesseln vermag, tritt sozusagen Akt II in Kraft. Hierbei gewinnen die formalen Umstände an Bedeutung, wie etwa drückende Schuhe, unangenehme Stehplatz-Nachbarn und sonstige Qualen, die sich im Laufe der noch verbleibenden drei bis fünf Stunden unweigerlich einstellen werden. In dieser Phase erfolgt meistens ein Abgleiten in den (zumindest psychischen) Eskapismus: das heißt in die Hoffnung, dass die Aufführung: a) doch noch besser b) wenigstens irgendwann enden wird. Dieser Aufenthalt in angenehmen gedanklichen Gefilden geht bei unserem Beispiel im Laufe des dritten Aktes unmerklich in Wachträume über. (Zu wirklichen Träumen wird es nur im Extremfall kommen, da die problematische physiologische Situation ein Einschlafen normalerweise verhindert!) In selbige versponnen - vom anschließenden Abendessen mit Mutzliputzli über denselbigen (ohne Abendessen) bis zur Vorstellung als Abonnent in einem weichen Sessel dösen zu können, treibt man dem Höhepunkt im Laufe des 4. Aktes entgegen: der brutalen Rückholung in die Theaterwirklichkeit. Hierbei gibt es wieder ungezählte Variationen. Um die beliebtesten anzuführen: Privatgespräche, Räuspern, Klingeltöne ... usw. Unter den exotischeren wären Ohnmachtsanfälle des Stehplatz-Nachbarn, Applaus oder Missfallenskundgebungen einzureihen. Der weitere Verlauf des Theaterabends hängt ganz davon ab, an welcher Stelle diese Unterbrechung erfolgt; optimal erweist sich natürlich jener Zeitpunkt, an dem die Aufführung plötzlich doch noch interessant zu werden verspricht. Leider kann aber auch der gegenteilige Fall eintreten. Um das Problem kurz zu umreißen: die Sitzplatz-Inhaber sind zu diesem Zeitpunkt bereits wunderbar ausgeruht und beginnen nun unverzüglich ihr Umfeld zu erkunden. Die Blicke, mit denen hierbei ihre standhaften Kollegen gemustert werden, kann man im günstigsten Fall als 'mitleidig' umschreiben. Meistens handelt es sich dabei eher um die Sichtbarmachung der gesellschaftlichen Nuancen, die durch die diversen Preiskategorien der Theaterkarten bereits vorgegeben sind. Obwohl sich bezüglich Bildung und manchmal auch Kleidung und Auftreten keine ersichtlichen Unterschiede ableiten lassen, kommt es dadurch bedingt dennoch automatisch zu einer Art Klassifizierung. Während interessanterweise der Liebe zum Theater an manchen Bühnen wirklich allerorten Rechnung getragen wird - was bedeutet, dass Stehplätze oft über einen größeren Panoramablick verfügen - kommt es in anderen Institutionen zu einer regelrechten Stigmatisierung der zahlungsunkräftigen Zuschauer: sie werden in einer Art Käfig zur Schau gestellt. Das haben sie allerdings auch nicht anders verdient, denn ihnen scheint Kunst (finanziell) nichts wert zu sein ... Wahre Theaterliebhaber vermuten jedoch andere als niedere Motive und verschenken selbstlos ihre nicht benötigten Karten. Selbigen sei an dieser Stelle Dank gesagt für die Vermittlung eines nahezu religiösen Erlebnisses! Wir nähern uns dem letzten Akt unseres Beispieles, der entweder doch noch einen versöhnlichen Abschluss eines nicht so ganz gelungenen Theaterabends bietet oder: (- auch erfreulich! -) das herbeigesehnte Ende der Vorstellung in greifbare Nähe rückt. Die kritische Aufarbeitung dieser kulturellen Veranstaltung gemeinsam mit seinen Begleitern erledigt man anschließend am besten in angemessener Weise: einem Steh-Café ..! Basierend auf langjähriger Erfahrung und dem Austausch mit anderen herumstehenden Publikumsbestandteilen kann man eine Formel von fast mathematischer Präzision ableiten: T = S - opB / spB In Worten ausgedrückt: ein THEATERBESUCH ist ein STEHPLATZ minus OBJEKTIVER PHYSIOLOGISCHER BESCHWERDEN geteilt durch SUBJEKTIVE PHYSIOLOGISCHE BESCHWERDEN. Demgemäß steigt der Genuss, je mehr pB gegen Null geht. Allerdings ist klar ersichtlich, dass bei hervorragenden Aufführungen die opB gar nicht wahrgenommen werden. Idealer geht es nicht. Findet man bei diesem Thema irgendeine Art von Moral, wie sie der 5.Akt eines Dramas meistens in sich birgt? Ja! Buchstäblich unermüdliche Stehplatz-Besucher, denen die Wissenschaft - wie oben näher ausgeführt - wichtige Erkenntnisse verdankt, sind nicht zu ersetzen! Deren Abwesenheit würde zweifelsohne das gesellschaftliche Gefüge ins Wanken bringen. Sie haben jedoch noch eine zusätzliche wichtige Funktion inne, und zwar für die anderen Mitglieder dieser Ticket-Kategorie. Diese kommen natürlich mit der Erwartungshaltung, einem großen Kunstgenuss beizuwohnen. Ein Blick auf die Eckensteher verrät ihnen, dass von diesen der Umgang sowohl mit den räumlichen Gegebenheiten, den physiologischen Bedingungen aber auch etwaigen verächtlichen Reaktionen perfekt beherrscht wird. Also haben sie, falls sich die Aufführung als ungemein enttäuschend entpuppen sollte, immerhin eine Gewissheit: Es befinden sich wenigstens unter den Zuschauern Profis ... |