Literarischer Adventkalender von Susanna Haunold
Mit uns hat die Schöpfung nicht gerechnet! (zweiter Teil)
Man hat als Autor also sein Bestes - oder zumindest irgendetwas - dafür getan, dass ein Werk überhaupt einmal entstanden ist; was die glückliche Vereinigung mit der passenden Leserschar betrifft - nun, um alles kann man sich wirklich nicht kümmern ... Aber vielleicht doch um einiges, nämlich darum das Werk zu Gehör zu bringen und zwar im Rahmen einer Lesung. Auf eine diesbezügliche Einladung erhält man nur selten die erwünschte Reaktion, nämlich eine begeisterte Zusage: dass man es gar nicht mehr abwarten könne und gegebenenfalls auch lebensnotwendige Operationen absagen würde! Der betreffende Dialog wird erfahrungsgemäß eher folgendermaßen ablaufen: Der Angesprochene wird wenig erfreut nachfragen, ob es wirklich eine Lesung wäre. A (utor); „Ja, aber nicht nur; es wird auch musikalische Beiträge geben und ein Freigetränk und Kekse.“ Das erweckt nun doch einiges Interesse, vor allem um welches Getränk es sich handeln würde. A: „Eigentlich ein Punsch; aber wenn ich denen die Filmrechte abtrete, kannst du dir sicher etwas anderes aussuchen.“ Man kann sich leicht ausrechnen, dass so ein Getränk nicht allzu lange reichen wird, daher kommt die Dauer der Veranstaltung zur Sprache. A: „Ach, gar nicht so lange - maximal 50 Minuten. Wenn wir die Begrüßung streichen, den Leuten sagen, dass sie nur am Ende klatschen dürfen und ich schneller lese, schaffen wir es sogar in 35.“ Das scheint noch als sehr lange empfunden zu werden, vor allem wenn der betreffende Autor diese Zeitspanne benutzen sollte, um intellektuelle Gesellschaftskritik anzubringen oder – noch schlimmer – minutiös seine innersten Gefühle zu offenbaren. A: „Mit so etwas würde ich nie mein Publikum quälen; bei mir sind es ganz harmlose Themen, oberflächliche Plaudereien, mit viel Humor, es geht fast schon ins Kabarettistische.“ Da hat man ein paar Pluspunkte gemacht, aber der Sieg ist offenbar noch etwas entfernt. A: „Also, was könnte ich dir noch darüber sagen .... ach ja - die anderen Besucher werden gutaussehend und charmant sein.“ Nun kommt unweigerlich das Gegenargument, dass es bei Lesungen eher dunkel und die diversen Schönheiten kaum sichtbar sein würden; ebenso wäre deren Charme Verschwendung, da man gezwungen wäre dem Vortragende zuzuhören, und sich daher nicht unterhalten könne. A: „Das stimmt natürlich; ... eigentlich wollte ich ja nicht mit emotionaler Erpressung arbeiten, ABER: das wird die letzte Lesung für seeehr lange Zeit sein, vielleicht sogar für immer!“ Unerfreulicherweise keimt in dem potentiellen Besucher nun der Verdacht auf, dass man diese Behauptung beliebig oft verwenden würde. A: „ICH - nein! Vermutlich eine Idee der Veranstalter, die schreiben ja immer irgendwas in die Einladung rein, um die Aufmerksamkeit der Leute zu kriegen.“ Geschafft! - ein Zuhörer mehr. Aber eines muss klar sein, ein Weihnachtsgeschenk wird man sicher nicht mehr bekommen ... Irgendwie kann man diese Zurückhaltung, was eine Teilnahme an einer solchen Veranstaltung betrifft, verstehen; schließlich wird man an deren Ende in die Verlegenheit kommen, irgendeine Form von Feedback geben zu müssen. Zur Beruhigung der heutigen Gäste, damit diese der Veranstaltung unbeschwert beiwohnen können: Die obligatorische Fragestellung 'Na, hat es dir gefallen?' wird heute ersatzlos gestrichen. (Natürlich gilt das dann schon als Weihnachtsgeschenk“) Doch abgesehen von dieser Tour de Force, was eben einen Kommentar betrifft, der doch manchmal eingefordert wird, sind Besucher einer Lesung mit einer ganz anderen Problemstellung konfrontiert. Wenn der betreffende Literat über Weltruhm verfügt, wird man davon verschont; denn dann ist der Andrang groß und die zahlreichen Anhänger quetschen sich in ganze Stadien oder zumindest Stadthallen. Will man einem herkömmlichen Autor bei seiner Lesung Gesellschaft leisten, tut man das meistens an winzigen Veranstaltungsorten. Wegen der begrenzten Räumlichkeiten sitzt man dem Vortragenden quasi am Schoss, deshalb wird es natürlich niemand wagen, etwas anderes zu tun als aufmerksam zu lauschen. Man ist deshalb von tratschenden Sitznachbarn und permanent klingelnden Smartphones vollkommen geschützt. Allerdings wird man diese scheinbar perfekten Bedingungen nicht so recht genießen können, denn 'Wohin soll man schauen?' Mitmenschen, denen man im Vorfeld seine diesbezügliche Besorgnis mitteilt, versuchen gar nicht erst den Spott über diese scheinbar absurde Frage zu verbergen: 'Na wohin denn wohl? Natürlich zum Künstler!' Das wäre naheliegend; doch wenn man in einer Distanz von nur wenigen Metern selbigen höchst einseitig unentwegt ansieht, könnte man das als unangenehmes Starren empfinden. Die Blicke zwanglos herumschweifen zu lassen, würde hingegen vielleicht als Indiz für Langeweile interpretiert. Um keine Regel für höfliches Benehmen zu verletzen, bleibt eigentlich nur mehr ein Landeplatz für ratlose Augen: das Schuhwerk. Aber ehrlich gesagt, dieses mag noch so elegant oder kleidsam sein, es bietet dennoch nicht genug Stoff für das eigene ästhetische Bedürfnis - schon gar nicht etwa eine Stunde lang! Und wenn man einfach die Augen schließt? Das könnte als völliges Eintauchen in den sinnlichen Genuss wahrgenommen werden. Allerdings steigt dabei sicher das Risiko, sanft zu entschlummern. Eine Möglichkeit gibt es da noch, die wir später kennenlernen werden .. An besagtem Termin sitzen sich jedenfalls die beiden Parteien gegenüber. Jetzt muss man sich als Vorleser eigentlich keine Mühe mehr geben. Man kann den Text ohne Punkt, Komma oder wenigstens Atempausen herunterleiern. Vorsichtshalber sollte man dann aber nicht vom Manuskript aufsehen, sonst müsste man selbstkritisch konstatieren, dass man einen sehr hohen Grad an Langeweile erzeugt hat. Oder doch nicht? Denn die Besucher sehen nicht genervt auf die Uhr, sondern geradezu gebannt nach vorne. Eigenartig! Man selber hätte sein Werk zwar als brillant aber nicht als so dermaßen spannend eingeschätzt ... Nun, dieses Publikum hat gerade entdeckt, worauf man die Augen bei einer Lesung in einem kleinen Raum noch richten könnte: auf das ausgedruckte Manuskript! Dieser Papierstapel wird mehr oder weniger unauffällig gemustert, und zwar aus einem einzigen Grund: um Berechnungen anzustellen: Wie oft muss er noch um ein Blatt dezimiert werden, bis er ganz abgetragen ist? Die steigende Spannung, die man ganz deutlich wahrnehmen kann, ist leider nicht das vom Autor Erwünschte: 'Erzähl uns doch endlich, wie die Geschichte weitergeht!', sondern vielmehr das Flehende: 'Bitte, lass das die letzte Seite sein!!!' Ungerührt von der Seelenqual des Publikums liest man weiter, bis das letzte Blatt umgeblättert, bis jeder niedergeschriebene Satz ausgesprochen, bis das geplante Programm absolviert wurde. Und vielleicht in dem einen oder anderen Zuhörer der Vorsatz gereift ist, niemals wieder eine solche Veranstaltung zu besuchen! Danach gesellt man sich zu seinen Gästen, um endlich auch das Freigetränk, einen Punsch zu konsumieren; in vielen Fällen stellt es nämlich das fürstliche Honorar dar, und – weil das Dichten eine eher brotlose Kunst ist – vermutlich die letzte warme Mahlzeit für die nächsten drei Tage. Vor einer negativen Kritik hat man keine Angst; schließlich wurden wohlweislich nur zwei Personengruppen eingeladen. Die einen sind begeisterte Anhänger des dargebotenen literarischen Outputs, bei den anderen ist die Zuneigung so groß, dass sie über mangelndes diesbezügliches Talent großzügig hinwegsehen. Und da man es wegen gemeinsamer Bestrebungen tatsächlich in nur 35 Minuten geschafft hat, bietet der Abend noch genug Zeit für eine gelungene Gestaltung. Ein bisschen Sorgen macht man sich wegen etwaiger Schriftstellerkollegen, die sich auch in die Veranstaltung verirrt haben könnten. Ihre Kritik ist verständlicherweise meist sehr hart: schließlich stellt man die ungeliebte Konkurrenz dar. Sie möchten vielleicht auch einmal die Chance haben, den aktiven Part bei einer Rezension zu übernehmen. Außerdem haben sie meist noch einen finsteren Hintergedanken, nämlich potentielle Besucher für ihre eigene Veranstaltung zu akquirieren. Was soll's? Mit uns Literaten muss man eben rechnen: immer und überall. |