Literarischer Adventkalender von Susanna Haunold
Platz-Angst
Vermutlich seit Menschengedenken werden irgendwelche Personen, internationale Konzerne oder auch Berufsgruppen verdächtigt, Teil einer Weltverschwörung zu sein. Die Verdachtsmomente für diese Anschuldigung sind mehr oder weniger plausibel und basieren oft auf Vorurteilen. Genau deshalb behalten sie den Status als 'Theorie' wahrscheinlich für immer bei. Ganz anders verhält es sich mit einem weitverbreiteten Phänomen, bei dem es keiner Beweise bedarf, dass finstere Mächte am Werk sind: in jeder Vorstellung - völlig gleichgültig, ob es sich dabei um Theater, Kino, Vortrag, Zirkus oder was auch immer handelt - findet man einen speziellen Typus von Menschen: diese kommen um sich – buchstäblich - zu unterhalten!!! Man könnte jetzt langwierige Überlegungen anstellen, wer davon profitiert, dass Besucher während einer Vorstellung mit ihren Sitznachbarn plaudern. Es wäre jedoch wesentlich wichtiger, sich mit der alles entscheidenden Frage auseinanderzusetzen: Auf welchen Plätzen wäre man vor diesen Störenfrieden halbwegs sicher? Man könnte es zunächst einmal mit einem pragmatischen Lösungsansatz versuchen. Je nach Architektur des betreffenden Gebäudes und den Lichtverhältnissen während der Vorstellung, reicht die Sichtweite eines Darstellers ungefähr bis zur 10.Reihe. Als wohlerzogenes Individuum geht man natürlich davon aus, dass dieser Bereich, um die Künstler nicht zu brüskieren, völlig unterhaltungsfrei wäre. Doch teure Tickets und erstklassige Manieren sind in diesem Fall durch keinerlei Proportionalität miteinander verknüpft. Doch auch der Umkehrschluss ist leider falsch: Personen, die aus lauter Liebe zur Kunst ihre letzten monetären Reserven geopfert haben, um wenigstens ganz weit hinten dem Geschehen beizuwohnen, würden dies gebannt und vor allem mucksmäuschenstill tun! Andererseits wählen manche ihren Platz nicht im Schutz der Dunkelheit und fern der Sichtweite der Künstler, um fröhlich zu kommunizieren, sondern etwa aus Gründen der Akustik. Also wird man auch in den letzten Reihen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in Ruhe die Veranstaltung genießen können oder eben sich über tratschende Individuen ärgern müssen, wie an jedem anderen Platz auch. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma: nichts dem Zufall überlassen! Das bedeutet, prinzipiell nur mehr Veranstaltungen zu besuchen, bei denen man durch 'freie Platzwahl' selbst seines Glückes Schmied sein würde. Nun lautet natürlich die spannende Frage: ist es möglich, potentielle Plauderer einwandfrei zu identifizieren? Wir wollen uns deshalb dieser Problematik annähern, indem wir die Besucher-Gruppierungen einzeln betrachten. Da wären zunächst einmal die Gattung 'Tourist'. Im Umfeld dieser Zeitgenossen wähnt man sich - rein plauder-technisch betrachtet - in absoluter Sicherheit! Diese Personen haben vermutlich das Ausbildungskonto ihrer Kinder geplündert. Sie haben sich, falls sie altersmäßig den Senioren zuzurechnen sind, auch den Zorn ihres Umfelds zugezogen, weil sie mit der Reise deren vermeintliches Erbe eliminierten. Sie haben unter Umständen Erdteile durchquert, kostbare Lebenszeit auf Flug-, Bahn- und sonstigen Höfen verbracht. Sie wurden wegen diverser Sicherheitsmaßnahmen als potentielle Schwerverbrecher behandelt und von rechtsradikal angehauchten Ureinwohnern belästigt. Nun sitzen sie endlich hier: in der Stadt ihrer Träume inmitten von Sitznachbarn, die ihre Biographie erahnen und sie voll Vertrauen anblicken. Denn man kann getrost davon ausgehen, dass ihre Tage ausgefüllt sind und sie daher diesen Programmpunkt sorgfältigst ausgewählt haben. Diese hehren Augenblicke werden daher sicher nicht mit banalem Geschwätz entweiht. Gerade will man sich geistig notieren, immer das geschützte Umfeld von Touristen zu erwählen .... - als sie ein ausführliches Gespräch beginnen. Offenbar ist wirklich niemandem noch irgendetwas heilig! Leider bringt es keinen Vorteil, wenn es sich dabei um eine fremde Sprache handelt, um so wenigstens nicht durch das Vokabular abgelenkt zu werden. Die gewählte Lautstärke, gewissermaßen ihr Tribut an die einheimischen Sitten, mag ein Anthropologe erfolgreich mit irgendwelchen Kulturkreisen in Verbindung bringen; sie ist ebenfalls unerheblich, denn auch ein permanentes unverständliches Getuschel stört ungemein den eigenen Kunstgenuss. Zu den Mitgliedern der nächsten Gruppe gehören die Familien und die Anhängerschar der Protagonisten. Man kann sie nicht anhand äußerlicher Merkmale, sondern nur durch Beobachtung identifizieren. Denn sie kommen im günstigsten Fall gerade aus der Künstlergarderobe, stehen idealerweise vor der Aufführung mit den Stars des Abends herum oder bedenken diese wenigstens mit vertraulichen Gesten. Manche können es auch einfach nicht lassen, die regulären Besucher mit triumphierenden oder hochmütigen Blicken zu mustern. Zwar ist das menschlich enttäuschend, aber andererseits genau jenes sehnsüchtig herbeigesehnte Zeichen für die richtige Platzwahl! Diese Bewunderer werden kaum lang und breit während der Darbietung ihrer Lieben die Probleme einer altersschwachen Kaffeemaschine diskutieren. Natürlich nicht! - ABER: auch permanente enthusiastische Kommentare wie 'Ist er nicht wunderbar?' oder ein stolzes 'Das ist meine Kusine zweiten Grades!' können immens stören. Die 'Profis' - somit wären wir bei der letzten Gruppe - scheinen auf den ersten Blick sehr vielversprechend. Leider ist das gerade der Haken an der Sache: woran sollte man sie denn 'auf den ersten Blick' erkennen? Nur weil sie sich zielsicher und routiniert in den Räumlichkeiten bewegen und auch nicht umständlich ihre Plätze suchen? Dabei könnte es sich genauso gut auch um Neulinge handeln, die von einem pflichteifrigen Billetteur perfekt gebrieft wurden. Außerdem stellt sich bei Abonnenten eventuell ein anderes Gefahrenmoment ein: gerade weil solche Aufführungen - ungeachtet ihrer künstlerischen Qualität – nichts Neues und Aufregendes mehr bieten, sind sie besonders gefährdet, aus Langeweile zu kommunizieren. Die Theorie über die vorteilhafte Nähe eines bestimmten Personenkreises wurde somit leider widerlegt. Bleibt nur mehr die Orientierung an der Quantität: sind größere Gruppen automatisch phonetisch präsenter als Zweier-Formationen oder Einzelpersonen? Nicht unbedingt, denn letztere pflegen neuerdings den Zusammenhang zwischen 'mehrere Personen = mehr Lärm' lautstark wegzutelefonieren. Leider führt auch keine spezielle Altersgruppe die betreffenden Charts an. Anscheinend mangelt es in allen Lebensphasen an der bitter notwendigen Feinfühligkeit im Angesicht von künstlerischen Darbietungen, ein Handyverbot wird oft auch von bildungsnahen Personen ungeniert boykottiert. Wenn man Lesungen, Vorträge und ähnliche Veranstaltungen einmal ausklammert, hätte man noch eine weitere Option, mit einem Wort: Lautstärke! Dröhnende Musik, vielleicht ein Konzert von 'Heavy-Metall'-Repräsentanten, und zusätzlich noch ein Platz neben den Lautsprechern - ja, nun hat man endlich Schutz vor tratschenden Sitznachbarn gefunden! Egal in welcher Intention oder über welches Thema, deren unerwünschte Kommunikation verschwindet buchstäblich in der überwältigenden Geräuschkulisse. Bevor man sich diesem unbeschwerten Genuss hingibt, wäre es wichtig sich mit zwei bedeutsamen Aspekten auseinanderzusetzen. Erstens: hat man sich vorsichtshalber eine Genehmigung vom HNO-Arzt ausstellen lassen? Zweitens: Was nützt es, wenn man das Dargebotene ohne jede Störung durch Mitmenschen erleben könnte, wenn man selbiges überhaupt nicht hören möchte??? Soweit zu den ersten Erkenntnissen, die nur als enttäuschend bezeichnet werden können. Auf den zweiten Blick gelingt es jedoch etwas Positives aus den Daten herauszulesen; allerdings gilt das lediglich für Menschen, die sich für Gender-Belange interessieren, denn: in diesem Bereich gibt es nämlich bei 'männlich' und 'weiblich' ein lupenreines Fünfzig/Fünfzig! Falls sich das ganze tatsächlich als gigantische Verschwörung entpuppen sollte, wer sind denn dann die Drahtzieher? Eigentlich die üblichen Verdächtigen: Pharmakonzerne! Denn wenn man nicht einmal hin und wieder irgendwo einen ruhigen Abend verbringen kann, steigen Stress- und Zornpegel stetig an, bis vielleicht wirklich nur mehr Tabletten helfen können .. Um gegebenenfalls diesem Spuk ein Ende setzen zu können, ist es aber längerfristig unumgänglich, ein Muster zu erkennen. Daher sollte man einmal versuchen, die Problematik von Seiten der Victimologie aufzuarbeiten und ganz neue Fragestellungen ins Spiel zu bringen: Ziehen manche Menschen diese Art von Plaudertaschen an? Dann hat man eigentlich keine Wahl, man muss solchen Veranstaltungen fernbleiben. Das ist zwar bedauerlich, denn man wird das Ambiente schmerzlich vermissen; aber mit den heutigen technischen Möglichkeiten ist es wenigstens möglich die Darbietung selbst an einen anderen Ort zu transferieren. Dafür benötigt man lediglich ein tragbares Gerät inklusive der passenden Software, also etwa ein Notebook mit Audiodateien, und natürlich einen Plan, wo man sich diesem Hörgenuss ungestört widmen will. Am besten wohl in irgendeiner einsamen Landschaft, wo ein umgestürzter Baumstamm stilecht den weichen Sessel im Konzertsaal ersetzt. Jetzt steht dem ungestörten Kunstgenuss nichts mehr im Wege. Nicht einmal die Sorge, dass man vermutlich - wegen der fehlenden Internetverbindung - nicht wieder zurückfinden wird. Doch eines nach dem anderen! Zuerst darf ein italienischer Tenor klassische 'Schmachtfetzen' in die Natur hinausschmettern, dann lauscht man hingebungsvoll einem Hörbuch. Die 'Platz- Angst' hat sich in (frische Wald)Luft aufgelöst, als plötzlich ein Schatten auf dem Display sichtbar wird; und noch einer, und noch einer. Damit materialisiert sich quasi der Beweis für die Theorie, dass man schwätzende Sitznachbarn offenbar buchstäblich magisch anziehen würde. Denn die Vögel, die in der Nähe gelandet sind, beginnen ganz unmanierlich in voller Lautstärke die künstlerischen Darbietung mit ihrer Kommunikation zu übertönen ... Was man dazu sagen soll? „PSCHT!!!“ |