Literarischer Adventkalender von Susanna Haunold
Wozu in die Ferne sehen?
Man stelle sich eine Szene am Frühstückstisch vor: ein Kind fragt seinen Vater, was er denn heute so an seinem Arbeitsplatz tun würde. Dieser antwortet: 'Am Vormittag werde ich mich mit meinem Vorgesetzten prügeln und später dessen Verlobter meine Liebe gestehen und ein bisschen mit ihr herumschmusen ..' Seine Ehefrau wird auf ihrem Smartphone fieberhaft nach einem Scheidungsanwalt suchen. Ein Nachbar, der gerade am offenen Fenster vorbeigeht und diese Sätze hört, wird das Jugendamt einschalten. Der Chef wird ihn entweder wegen der neumodischen Compliance oder der altmodischen Rache feuern. Falls dieser Vater jedoch beispielsweise weder Buchhalter noch Chirurg sein sollte, sondern von Beruf Schauspieler, wird er dieses Arbeitspensum gewissenhaft erledigen - ohne jegliche Sanktionen. Die Kinder werden stolz in der Schule davon erzählen. Der Nachbar möchte ein Autogramm haben. Der Chef übergibt ihm ein Drehbuch, in dem er noch einen Kollegen körperlich misshandeln und mit zwei weiteren gebundenen Frauen eine Affäre beginnen wird. Die Gattin kommt aufs Set um den Liebesszenen zuzusehen und seine Darstellungskunst begeistert zu würdigen. Selbst wenn es sich um einen weiblichen Akteur handelt, wird - obwohl bei Frauen häufig höhere moralische Maßstäbe angelegt werden, sich das Geschehen in ähnlicher Form abspielen. Und da wären wir schon bei der Antwort auf eine spannende Frage, welche die ganze Welt schon lange in Atem hält: warum kam es eigentlich zu der Bezeichnung 'Fernseher'? Denn in erster Linie ist es der Zuschauer und nicht der Apparat, der zumindest etwas davon tut, nämlich sehen. Allerdings müsste man in Anbetracht einer Distanz zwischen selbigem und dem Gerät von maximal drei Metern eher von dem 'Naheseher' sprechen. Aber: Da die Realität sich offenbar nicht unbedingt im Dunstkreis dieses Mediums aufhält, muss man, um einen Blick darauf zu erhaschen, buchstäblich 'in die Ferne sehen'. Die Menschen tun das gerne und oft. Niemanden scheint es dabei wirklich zu stören, dass man dabei einen 'so tun als ob!'-Modus serviert bekommt. Vielleicht ist selbst im Zeitalter von Reality-TV-Shows, Internet-Auftritten und viel Insiderwissen über diese Branche immer noch der mediale Neandertaler in uns aktiv, der voll Vertrauen kundtut: 'Ich hab es im Fernsehen gesehen, also ist alles gut und richtig.' Daher wird es vermutlich immer irgendjemanden geben, der herumsitzt und auf einen Fernsehbildschirm schaut. Falls sich diese Person an einem strahlenden Sommertag dieser Art des Zeitvertreibs widmet, wird sie mit Kritik zu rechnen haben - denn man sollte doch das schöne Wetter ausnutzen! Nun, dieses Problem hat man quasi hinwegmodernisiert: da manche Empfangsgeräte heutzutage leicht sind und nicht viel größer als A4-Hefte, kann man eine erfreuliche Wetterlage und den TV-Konsum problemlos im Freien verknüpfen. Doch selbst an einem Apparat, der wegen seiner Ausmaße jeder Kinoleinwand Konkurrenz machen würde, also nicht so leicht 'äußerln-geführt' werden kann, sollte man den Nörglern einen mächtigen Begriff entgegenschleudern: BILDUNGSAUFTRAG! Bildungsauftrag? Das mag ja für Dokumentationen und Wissenschaftssendungen gelten, aber das Programm wird auf den meisten Sendern doch eindeutig von einer ganz anderen Abfolge dominiert: Uralt-Filme - Sport - Werbespots - amerikanische Serien. Wo wäre da irgendein Lernpotential? Für die vielgeschmähten Genres diesbezüglich positive Argumente zu finden, ist denkbar einfach: Uralt-Filme sorgen für eine Steigerung der historischen Kenntnisse, sind sie doch letztlich wertvolle Beiträge zur Zeitgeschichte. Productplacement und Sponsoring in dem einen Bereich ermöglichen angeblich die Finanzierung hochwertiger Programme in einem anderen. Also geschieht die Konsumation von Übertragungen, nicht aus Vergnügen, oder Interesse an einer speziellen Sportart und schon gar nicht als Kompensation für den Mangel an eigener körperlicher Ertüchtigung, sondern gewissermaßen als ethischer und solidarischer Akt. Vielleicht erkennt man nicht auf den ersten Blick das Potential, das diesbezüglich in Werbespots steckt. Doch es ist zweifelsfrei vorhanden, denn man erspart sich umfangreiche Recherchen und bekommt kompakt ein realistisches Abbild der Gesellschaft geliefert, was Modeströmungen, aber auch Normen und Werte betrifft. Dasselbe gilt auch für Filme und Serien, vor allem jene, die in Amerika produziert werden. Sie könnten immer ' .. oder: ein Hoch auf die political correctness' als Untertitel wählen. Denn fast alles was man früher an Klischees und Vorurteilen benutzt hat, wurde ersatzlos gestrichen und man hält sich penibel an alle Vorgaben. Cowboys zum Beispiel fallen heutzutage dauernd vom Pferd; nicht aus dramaturgischen Gründen, sondern weil die Tiere laut ihrer Gewerkschaft, nur mehr 70% pro galoppiertem Kilometer einen Reiter tragen müssen. Mit der lästigen Beendigung des Kalten Krieges wurden viele spannende Plots nicht in Pixel sondern in Luft aufgelöst. Man ist ja fast dankbar, dass sich im Osten manche Zeitgenossen als veritable Feindbilder anbieten, sonst bliebe der Bildschirm dunkel. Man würde zwar andere Betätigungsfelder finden. Doch wo und vor allem wie sollte man sich dann so unauffällig und angenehm Kenntnisse in diversen Lebensbereichen aneignen? Durch jahrelangen ausgiebigen TV-Konsum ist man nämlich bestens auf schwierige Situationen vorbereitet; falls man einmal in den USA mit dem Gesetz in Konflikt kommen sollte, könnte man die sogenannte 'Miranda-Formel' im Schlaf herunterbeten. Nicht anders verhält es sich bei einem Unfall: halb tot und schon dreiviertel anästhesiert, wird man sich aufrichten und dem medizinischen Personal ein paar hilfreiche Tipps geben, was die Dosierung von Epinephrin oder Natriumbikarbonat betrifft. Man hat sich auch angewöhnt, von diversen CSI-Sendungen vorbildlich gebrieft, den Ermittlern in den angesprochenen Schwarz-Weiß-Filmen verärgert zuzurufen: 'Verdammt noch einmal - du bist an einem Tatort, also zieh gefälligst Handschuhe an! Und fahr mit dem Objekt nicht stundenlang in der Stadt spazieren, du unterbrichst die Beweiskette!' Selbst Serien, über die man sich lustig macht, können durchaus lehrreich sein; ein hübsches Beispiel wäre jene über die legendären Badewaschel. Man hofft natürlich, dass ihre realen Kollegen nicht so lange Fingernägel haben, die eine ebenso ernste Gefahr darstellen könnten, wie spitze Felsen oder hungrige Haie. Durch die giftigen Dämpfe der Produkte für das ungemein natürliche Blond wird man vermutlich in der Nähe dieser Strandhelden sofort ohnmächtig zusammenbrechen; da würde es einen nicht weiter erschüttern, dass - wie man so ungefähr in Folge 537 dankenswerter Weise gelernt hat - der Retter immer vorrangig das eigene Leben schützen muss! Gesamtgesellschaftlich betrachtet ist ein Phänomen wirklich interessant. In den Anfängen dieses Mediums waren bekanntlich nur wenige im Besitz dieses Zauberkastens. Oft gab es nur einen Apparat weit und breit, vor allem bei wirklich reichen Leuten. Daher strömten die weniger Glücklichen dorthin, um gemeinsam an dieser neuen Art der Freizeitgestaltung voll Begeisterung mitzuwirken. Bedingt durch den Preisverfall der Geräte, aber auch anderen Formen des Zusammenlebens wurde in den letzten Jahren beinahe jedes Zimmer damit ausgestattet; der Fernseher und der Fernseher verbrachten dort in trauter Zweisamkeit viel Zeit miteinander. Seit kurzem ist eine Trendumkehr zu bemerken, denn plötzlich sehnt man sich bei dieser Tätigkeit anscheinend wieder nach menschlicher Gesellschaft. Schnell noch eine hübsche englische Bezeichnung für dieses Freizeitvergnügen und schon finden sich die unterschiedlichsten Individuen zum 'public viewing' ein. Statt auf ergonomisch geformte Fernsehsessel drapiert, kauert man auf Plastik-, Liege- oder überhaupt keinen Stühlen. Man ist dem Straßenlärm, den Gelsen und vor allem den Launen der Meteorologie ausgeliefert; und wie im Kino versperrt selbstverständlich ein lang gewachsener Zeitgenosse beinahe die ganze Sicht auf die Opernübertragung oder das Semifinale. Aber man kann dabei essen, sich halblaut unterhalten und diese 'Sommerfeeling'-Stimmung genießen. Nicht zu vergessen, dass man sich endlich korrekt gemäß der Bezeichnung für diese Tätigkeit verhält. Da man meistens in einem Abstand von über 10 Metern zur Leinwand sitzt, sieht man jetzt tatsächlich fern ....! |